Teil 2: Vorgeschichte und Entwicklung eines späten Frühchens

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Geburtstag – Worst Case Szenario

Zum Ende des ersten Teils erreichte mit der Anruf aus der Klinik, dass bei meiner Frau die Wehen eingesetzt hatten. Wollen wir also gleich hier wieder einsteigen...

Irgendwie hatte ich es geschafft, die 15-minütige Rückfahrt zum Krankenhaus um etwa zehn Minuten zu reduzieren (zeigt mich an!) und stürzte, halb strahlend vor Freude, halb blass vor Sorge, in den Kreißsaal, wo meine Frau allein auf einer Liege lag und an den Wehenmonitor angestöpselt war. „Na?“, sagte sie und stieß noch ein beiläufiges „Geht los, wa?“ aus, bevor einer der ersten, ohrenbetäubenden, Wände erschütternden Schreie sich aus den 1,65 Metern Mensch vor mir in die Klinikräume verteilte. Unsere Katzen waren sicherlich besorgt, als sie das gehört hatten. Ich war sicher, dass dieser Schrei die Distanz von gut zehn Kilometern spielend geschafft hatte.

Eine der anwesenden Hebammen tanzte summend in den Kreißsaal, erklärte mir, dass es sich bei der intonalen Kriegserklärung an das Trommelfell um eine Wehe handlete, drückte mir einen Stift in die Hand und sagte: „Hier. Immer, wenn die da das da macht, machen Sie hier 'nen Strich, klar?“, und deutete auf das Endlospapier, das sich behäbig unter der zuckenden Druckernadel hindurch walzte. „Damit messen wir die Abstände der Wehen. Aber Sie haben noch Zeit. Ist noch viel zu viel Zeit dazwischen.“ Und so verbrachten wir die nächsten 60 Minuten. Während meine Frau während unserer Unterhaltungen immer wieder das Mauerwerk testete, malte ich Striche auf Endlospapier. Meine beinahe sechsfach gebrochene Hand und das ständige Klingeln in den Ohren waren nach dem vierten Mal auch nicht mehr ganz so schlimm.

Jetzt geht's lohos... jetzt geht's lohos!

Scheinbar waren die Abstände zwischen meinen Malkünsten irgendwann klein genug, so dass nach kurzem Check durch eine weitere Hebamme plötzlich eine Ärztin die Szenerie betrat. Sie stellte sich kurz vor, versenkte sodann den halben Unterarm in meiner daraufhin erneut infernalisch schreienden Frau und meinte: „Nä, dat gibt nix mehr. Muttermund ist dicht. Mach mal fertig für Kaiserschnitt.“
Alle Anwesenden blicken sich reihum an und noch bevor meine Frau oder ich: „Wie bitte, WAS?!“ ausröcheln konnten, flitzte die Liegegelegenheit meiner Frau durch die Tür des Kreißsaals, verschwand um die nächste Ecke und eine Hebamme packte mich am Arm, um mich in eine ca. 0,5 Quadratmeter große Kammer zu stopfen. Bevor sie die Tür schloss, brabbelte sie hastig: „Hier alles ausziehen, intensiv und gründlich reinigen, die grünen Sachen anziehen, Mützchen und Mundschutz nicht vergessen und an der Tür warten, bis man sie reinruft.“

Und da stand ich. Mit knapp zwei Metern Körperlänge und Kleidungsgröße Volksfestzelt hatte ich nach bestem Willen versucht, das Protokoll abzuarbeiten. Mundschutz und Mützchen passten wunderbar, der Rest war mehr oder weniger zusammengeknotet. Angesichts der Außentemperatur von knapp 33°C möchte ich betonen, dass ich in meinem Leben noch niemals so geschwitzt habe wie unter diesen Plastiksäcken von Kleidung - und ich habe in der sommerlichen Mittagssonne in Los Angeles mal über eine Stunde Volleyball gespielt, verdammte Scheiße!

Durch ein Bullauge konnte ich hektisches Treiben im OP beobachten. Ärzte und Schwestern schwirrten um den OP-Tisch herum, auf dem meine Frau bereits abgelegt war. Ich konnte beobachten, wie ein Tropf an den Zugang meiner Frau angekoppelt wurde und als das Bullauge mehr und mehr beschlug, weil die Temperatur in meiner Kammer locker die 40°C gesprengt hatten, öffnete sich plötzlich die Tür zum OP. Eine mit Mundschutz ausgestattete und beide Latexhände in die Luft haltende OP-Schwester sagte: „Sorry, geht leider nicht. Ist doch'n Notkaiserschnitt. Da darf man nicht dabei sein.“ Und dann ging die Tür, die man vorsichtigerweise nur von OP-Seite öffnen konnte, einfach zu. Das Bullauge war beschlagen, der schwitzende Kerl stand ohne jegliche Möglichkeit zu Beistand und Fürsorge in einer kleinen Kammer, tropfte sich vom Kinn an abwärts die Kleidung samt Bodenbelag voll und die Geburt seiner Tochter war eine Exklusivvorführung für das Klinikpersonal.

Nachdem ich mich aus meinen Recycling-Säcken befreit und endlich wieder „frische Luft“ auf dem Gang atmen konnte, war ich hilflos. Es kam mir vor, als bewege ich mich in Zeitlupe, während alle um mich herum in dreifacher Geschwindigkeit abliefen, ohne mich überhaupt wahrzunehmen. Niemand bemerkte mich. Schwestern und Hebammen flitzten an mir vorbei und um mich herum, als sei ich ein abgestelltes Krankenbett, dass irgendwo im Weg herumsteht. Ich riss mich hektisch zusammen und hielt schließlich ein aus dem Kreißsaal bekanntes Gesicht an. Ich fragte, was ich denn bitte jetzt tun solle. „Setzense sich doch vorne hin. Nehm’se sich ‘n Kaffee! Der Automat is‘ OK. Sie wissn ja, wo alles is‘. Wenn dat Kind da is‘, werden se eh gerufen. Halbes Stündchen, woll?“, sprach’s und schwupps, was er auch schon wieder weg, der kleine, rosafarbene Flitze-Frosch.

Ich ging also in den vorderen, öffentlichen Teil des Kreißsaals, wo im Willkommensbereich der Kaffeeautomat stand. Brav und wie geheißen, rang ich dem elektromechanischen Kollegen ein heißes Bohnengetränk ab. Und ich wartete. Und wartete. Heute kann ich nicht einmal mehr sagen, ob dort Menschen saßen. Ich war völlig allein auf der Welt und meine gesamte Konzentration war damit gebündelt, die Waben des Bodenbelags von meinen Füßen bis zur nächsten Tür zu zählen. Immer und immer wieder. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich den Kaffee überhaupt getrunken habe.

Als ich nach über 40 Minuten vollends in hektische durch den Kopf klirrenden Sorgen und Ängsten versunken war, stand plötzlich freudestrahlend und breit grinsend die operierende Ärztin vor mir. „Na, Papa? Is’ dat nich’n süßes Würmchen?“, fragte sie, während sie scheinbar meine unter Freudentränen auszustoßende Antwort erwartete. Ich blickte mich um, unsicher, ob sie mit mir sprach und muss wohl recht verwirrt ausgesehen haben, als ich sagte: „Hm? Wer? Würmchen?“
Ihr Gesicht verzog sich binnen einer Sekunde zu einem fragenden Knautsch-Sack, als sie nur langsam bemerkte, dass mich scheinbar niemand informiert hatte, dass ich vor über zehn Minuten Vater einer kleinen Tochter geworden, meine Frau längst in den Aufwachraum geschoben und meine Tochter längst auf der Säuglingsintensivstation versorgt worden war. Nachdem sie mir dies alles im Schnelldurchlauf erklärte, packte sie mich an der Hand, schleppte mich durch die Tür zur erstbesten Schwester und sagte: „Hier. Dat is’ Herr Franken. Grad Vatter geworden. Bring den ma’ rübber.“

Das erste Kennenlernen

Die freundliche Schwester beglückwünschte mich, fragte, ob Junge oder Mädchen, freute sich über das Mädchen, attestierte, Mädchen seien immer Papakinder, betrat gemeinsam mit mir die Schleuse zur Säuglingsintensivstation, erklärte mir am Waschbecken die notwendigen Tricks und Kniffe des korrekten Händewaschens, rief eine Kollegin von „der anderen Seite“ zu uns... und verschwand. Die Kollegin beglückwünschte mich ebenfalls, fragte nach meinem Namen, nickte wissend und führte mich quer durch die Station in einen kleinen Raum, in dem vier Brutkästen standen. „Hinten links is’ Ihre. Wat ‘ne Süße, hömma! Geh’n se ma’ hin. Anfassen is' OK.“

Ich ging die circa fünf Meter durch den Raum, als nähere ich mich gerade einer gefährlichen Schlange. Ich hatte tatsächlich Angst vor dem, was mich dort erwarten würde...
Und da lagen sie. Die 1.600 Gramm Sorgen, Ängste, Nöte und Schmerzen der letzten acht Monate. Das mit Abstand schönste Baby der Welt. OK, knapp so groß wie ein Schuh, Beinchen und Ärmchen wie Streichhölzer, aber das Gesicht war eindeutig das Schönste, Hübscheste und Friedlichste, was ich jemals gesehen hatte. Klarer Fall: das hatte sie eindeutig vom Papa.

Der erste Kontakt Nicht einmal die Kabel, Infusionen, die Sonde und der ständig piepsende Monitor könnten der Schönheit etwas anhaben.

Ich verbrachte einige Minuten ganz allein mit meiner Tochter, streichelte durch dei Arm-Klappen des Brutkastens ihr Köpfchen, hielt ihr meinen Finger hin, den sie tatsächlich ergriff und kam aus dem Staunen einfach nicht mehr heraus. Sie war winzig, aber irgendwie „fertig“. Ich hatte bereits mehrere Frühchen gesehen und meine Tochter sah diesen so überhaupt nicht ähnlich. Sie war ein ganz normales Baby. Das schönster der Welt (kann man gar nicht oft genug erwähnen!), aber eben kleiner und vor allem schlanker. Nach einigen Minuten betrat die Schwester das Zimmer und flüsterte über meine Schulter: „Ich soll Ihnen ausrichten, dass Ihre Frau gerade wach wird. Wenn Sie wollen, bring' ich Sie hin.“

Kaiserschnitt – des Beginns der Mutterschaft beraubt

Natürlich hatten meine Frau und ich uns im Rahmen der Schwangerschaft bereits mit Risiken und möglichen Szenarien beschäftigt. Einfach, um vorbereitet und informiert zu sein. Wir sind beide Menschen, die mit Überraschungen nicht wirklich gut umgehen können – erst recht nicht mit negativen.

Worauf weder meine Frau, noch ich eingestellt war: der Kaiserschnitt hat neben medizinischen vor allem psychische Nebenwirkungen. Und die haben es in sich! Man denkt eigentlich gar nicht daran, wenn man selbst noch nicht Mutter oder Vater geworden ist. Die Dinge entwickeln sich mit der Schwangerschaft und auch danach verändern sich noch Sicht- und Denkweisen zu bestimmten Dingen. Wir beide pflegten eine, sagen wir, gelassene Beziehung zu medizinischen Eingriffen. „Die wissen schon, was sie tun", so waren wir uns einig, „und ein Kaiserschnitt ist ja nun auch nichts, was es erst seit fünf Jahren gibt.“ Wenn eine Mutter dies allerdings hinter sich gebracht hat, kann (und ich betone: kann!) es vorkommen, dass der Raub der natürlichen Geburt, den der Kaiserschnitt bzw. die Entscheidung hierfür zweifelsohne ist, tunlichst nicht zu unterschätzende emotionale Auswirkungen hat. Es gibt eben diese Dinge, die im Rahmen eines Kaiserschnitts und vor allem Notkaiserschnitts eben nicht passieren:

  • Dein Kind wird dir nicht im Anschluss auf den Bauch gelegt.
  • Dein Kind ist nicht das Erste, was du nach der Narkose siehst, sondern ein halbes Dutzend Schwestern, Hebammen und Ärzte – eine Ausschüttung von Glückshormonen findet in dieser Szenerie sicher nicht statt.
  • Nicht einmal die Frage nach dem Kindswohl kommt dir angesichts deiner völligen Verwirrtheit aufgrund der nachwirkenden Narkose über die Lippen.
  • Dein Mann ist nicht da.
  • Später siehst du dein Kind nicht ununterbrochen. Um dein Kind zu sehen, musst du entweder unter enormen Unterleibschmerzen unter Umständen über mehrere Stationen transportiert werden oder (später) selbst laufen.
  • Du bekommst dein Kind nicht sofort an die Brust gelegt.
  • Dein Kind liegt nicht in deinem Zimmer, da es einen Grund für den (Not)Kaiserschnitt gab und es mittels elektronischer Geräte beobachtet werden muss.
  • Du bist 24 Stunden am Tag alles andere als sorglos.
  • Du legst dein Kind nicht selbstverständlich an die Brust, wenn du glaubst, dass es an der Zeit ist, sondern hängst gefühlt alle paar Minuten eine gluckernde Milchpumpe an dich, damit deine Muttermilch deinem Kind verabreicht werden kann, während du unter Umständen gar nicht dabei bist.
  • Du entdeckst deine neue Lebensaufgabe nicht selbst, sondern lässt dir von Schwestern, Hebammen und Ärzten erklären, wie alles funktioniert, wenn du in den ersten Tagen oder sogar Wochen von deinem Kind getrennt bist.
Intensivstation

Meine Frau hat einige Wochen nach der Geburt noch unter diesem Erlebnis gelitten. Ich erinnere mich noch, als sie mir von ihren ersten Gedanken berichtete, die sie in dem Moment hatte, als sie unsere Tochter zum ersten Mal sehen durfte: „Das ist meine Tochter? Das ist das strampelnde, sich fröhlich kugelnde Etwas, das gefühlt bis eben gerade noch in meinem Bauch war? Wie ist es da rausgekommen? Ich weiß es nicht! Ich erinnere mich nicht. Ich war nicht dabei.“

Auch über ein Jahr danach denkt sie an diesen Moment zurück. Sie denkt an einen Moment, den sie gar nicht erlebt hat, weil sie ihn nicht erlebt hat. Sie fühlt sich auch heute noch eines wichtigen Teils ihrer Mutterschaft beraubt. Und ich kann es verdammt gut verstehen. Auch ich erinnere mich heute noch immer wieder an diesen Moment, den ich gar nicht erlebt habe.

Fairerweise muss ich an dieser Stelle erwähnen, dass wir heute sicher kinderlos wären, wenn die Entscheidungen nicht getroffen worden wären, wie sie getroffen wurden. Also bitte, liebe Hebammen, Schwestern und Ärzte, fühlt euch nicht verantwortlich. Denkt aber vielleicht ab und zu mal darüber nach, ob in all den Fällen, die es heute gibt, ein Kaiserschnitt wirklich medizinisch und nicht finanziell notwendig ist. Vielen Dank!

Dass das alles auch für mich nicht einfach war, bemerkte ich allerdings erst, als unsere Tochter bereits ein Jahr alt war. Unsere Nachbarn haben vor wenigen Wochen ihr Baby bekommen und bei der freudigen Beglückwünschung im Hausflur, lehnte sich der stolze Papa zu mir rüber und fragte fassungslos mit dem Kopf drehend: „Echt mal: ist das nicht das krasseste Erlebnis überhaupt? Wahnsinn, oder?“
Ich bemerkte, wie mein Puls langsam anstieg, während sich meine Kehle zuschnürte und meine Stimme dünn wurde. „Tut mir leid, das ... weiß ich nicht.“, hauchte ich. Ein Gefühl, das ich vielleicht ein- oder zweimal in meinem Leben hatte. Völlige Hilf- und Haltlosigkeit angesichts der Erkenntnis, dass ich diesen wichtigsten Moment einer jungen Vaterschaft niemals erlebt habe und wohl auch niemals werde.

Die ersten zwei Wochen und der lange Weg nach Hause

Weiter geht's im dritten Teil

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